Freitag, 16. Mai 2014

Album-Vorstellung: Yann Tiersen "∞" (Infinity)

"∞"
Entzückt strömten Millionen von Besuchern 2001 aus den Kinos, nachdem sie für 122 Minuten in das skurrile und gleichzeitig wunderbare Leben der liebenswerten Französin Amélie Poulain eingetaucht waren. Kaum ein französischer Film hatte je für größere Begeisterungsstürme gesorgt. Jean-Pierre Jeneuts "Die fabelhafte Welt der Amélie" entwickelte sich binnen kürzester Zeit zum Kassenschlager, was nicht zuletzt auch an dem einzigartigen Soundtrack lag, den der Komponist Yann Tiersen für das komödiantische Drama beigesteuert hatte. Heute findet man das entsprechende Album in fast jedem gut sortierten Musikregal, und sogar in jenen, die sonst einzig Werke aus dem Mainstream beherbergen. Der verspielte Charme der zwanzig Stücke, mit ihren Akkordeonpassagen und Glockenspielmomenten, traf den Nerv einer Zeit, indem die Menschen sich nach Heimeligkeit und Glück sehnten. So halfen Tiersens zeitlose Stücke schließlich vielen dabei, nach einer gewissen Verwirrung und Perspektivlosigkeit, wieder auf den Boden der Tatsachen zu gelangen. Für den 1970 in Brest geborenen Multiinstrumentalisten bedeuteten sie hingegen den internationalen Durchbruch. Dass Tiersen jedoch weitaus mehr kann, als wieder und wieder die gleiche Platte abzuspielen, stellen seine zahlreichen Studioalben zur Schau, die von Rock bis Chanson nahezu jedes Genre bedienen. Mit "∞" schickt er den Hörer nun auf eine kosmische Reise.

"∞" entführt in ein sagenhaftes Paralleluniversum. Geheimnisvoll und von einer nebelartigen Aura umgeben setzt es die Schwerkraft außer Gefecht. Yann Tiersen hat sich Einiges vorgenommen, um auf seinem achten Album, wenn man einmal von all den Soundtracks und Livemitschnitten absieht, neue Klangperspektiven zu entdecken. Zwischen Island und der westfranzösischen Bretagne, der rauen Heimat Tiersens, entstanden die zehn neuen Titel. Abgemischt und produziert wurden sie mithilfe der fachkundigen Beratung von Gareth Jones und Daniel Miller, auf deren Label Mute Records "∞" nun schließlich auch veröffentlicht wird.



Unendlichkeit, Fremde, Leere, Nähe und Ferne. Ob das Eröffnungsstück "Infinity", sein Nachfolger "Slippery Stones" oder auch das donnernde "Midsummer Evening" - auf dem neusten Werk Tiersens wird der Hörer mit einer Mischung aus Sehnsucht, Zuversicht und Haltlosigkeit konfrontiert. Sobald man glaubt, man könne sich an einen der vielen akustischen Fetzen klammern, um in nicht der Weite des Schalls verloren zu gehen, weht ein rauschender Orkan diese Sicherheit schon wieder hinfort. Nicht einmal textlich ist Verlass auf Konstanz. Die Lyrics der Platte bedienen sich sprachlich neben Englisch nämlich auch beim Isländischen ("Steinn), Färöischen ("Grønjørð") und Bretonischen ("Ar Maen Bihan"). Somit bildet "∞" ein gutes Stück der hinreißenden Bitterkeit des nordöstlichen Atlantiks ab. Faszinierend, doch gleichzeitig ungestüm und spröde. Nur bei "Lights" hat man das Gefühl, man könne auf der Oberfläche des salzigen Meeres, eine Reflexion des Sternenhimmels entdecken. Fulminant lässt es sich dann wieder mit "Greenworld", einem der vielen Highlights auf "∞", über die Wellen gleiten.



Abtauchen und das Licht im Dunklen suchen - "In Our Minds", sprich in unseren Köpfen, finden wir den Pfad zur Erkenntnis. Und wenn dann "The Crossing" oder das finale "Meteorite" ihren Teil dazu beitragen, dass dieser von mystischen Melodien gesäumt wird, hinterlässt das einen erhabenen Eindruck. Vielleicht hätte man ein Album wie "∞" nicht unbedingt von Yann Tiersen erwartet, umso schöner ist es jedoch, dass er uns eben dieses auditive Spektakel schenkt.



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